Spaziergang
Es ist ein kalter Herbsttag.
Zu warm noch für die Winterjacke, aber Schal und Handschuhe sind zumindest fürs Fahrradfahren schon Pflicht.
Die Sonne scheint, es bleibt kalt. Ich fahre eine belebte Straßen entlang, viele Familien aus allen Generationen sind hier draußen, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.
Ich fahre ein bisschen ziellos umher, bis ich mein Rad abstelle. Ich laufe einfach am Waldrand entlang, ohne mir große Gedanken zu machen, wohin.
Plötzlich stehe ich ohne es zu merken vor dem Friedhof.
Komisch eigentlich - ich bin öfters mal auf Friedhöfen. Dort, da und da drüben auch, wo Verwandte liegen.
Aber hier auf diesem, in meinem Heimartort, war ich noch nie. "So ist das, wenn man zugezogen ist" denke ich mir.
Ich laufe ziellos herum, lasse mich von meinen Füßen tragen und mache ein paar Fotos. Aus dem Grund bin ich schließlich überhaupt hier draußen, ein paar Sonnenstrahlen für den Winter einfangen.
Ein außergewöhnlich buntes Grab erregt meine Aufmerksamkeit. Ich finde es wunderschön, ein Windrad steht am vorderen Rand, links hängt eine Kette aus bunten Steinen wie ein kleiner Zaun. Auf einem Pfosten sitzt ein kleines Engelchen, der Grabstein ist eine schmale Steinsäule mit einem Loch in der Mitte, in dem ein transparentes Kreuz angebracht ist. Der Rest des Grabes ist mit erstaunlich farbigen Steinen, Blumen und Moos ausstaffiert, ein Rosengewächs, ein kleiner, liebevoll handgemachter Tonteller mit einer schönen Bemalung passt ins Bild. Das Grab ist normalgroß, aber eben sehr bunt. Ich mache ein paar Fotos.
Auf der weißen, groben Steinsäule steht nur ein Wort: "Marlene". Enttäuscht will ich gehen, ich habe mir mehr Informationen über dieses außergewöhliche Grab erhofft.
Ich blicke zurück und sehe auf der rechten Seite der Säule noch eine Inschrift in blauer Farbe. Ich gehe zurück und muss schlucken.
MARLENE CARLOTTA EGGER
*19.8.1993
+3.3.2005
Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. "Verdammt, das könntest du sein! Was macht die hier?!" Mit solchen Gedanken im Kopf stelle ich mich vor das Grab und betrachte es noch eine Weile. Ich habe diese Person nie gekannt, aber sie ist kaum ein halbs Jahr nach mir geboren. Das erscheint mir alles nicht richtig, und dann ist sie so jung gestorben... Im Stillen zolle ich ihren Eltern Respekt, wie elegant sie es geschafft haben ihr Andenken zu wahren, ohne ein Grab bei den anderen Kindern gewählt zu haben. So wirkt das Grab viel intensiver, viel erschreckender.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier einfach nur stehe, aber ich merke, dass jemand neben mir steht.
Eine junge Frau in meinem Alter, sie trägt einen schwarzen Mantel. Die schwarzen Haare werden von einer Mütze verdeckt.
Ich bemerke ein nach meinem Geschmack hübsches Gesicht, das offene Trauer zeigt. Sie sieht mich an.
Ich habe sie nie zuvor gesehen, aber mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Ich erwiedere ihren Blick, bis ihr eine Träne die Wange herunter läuft. Leise schluchtzt sie.
Es gibt Momente, da braucht man keine Worte. Ich nehme Marlenes Schwester in den Arm und kurz darauf versiegen die Tränen.
"Es tut mir so leid",
sage ich. Leise erwiedert sie
"Ist schon Okay."
Ich nicke stumm.
Ihre Stimme kommt mir bekannt vor, wie aus einem halb vergessenem Lied. Aber nein, wir sind uns nie zuvor begegnet. In stiller Übereinkunft gehen wir zur nächsten Bank.
"Warum passiert sowas? Sie war noch so jung und so wunderbar."
"Für manche Dinge gibt es eben keine Erklärung. Aber sieh es so, wenigstens sind wir uns jetzt begegnet."
Meine Antwort entlockt ihr ein Lächeln. Ein schönes Lächeln, was ich einfach erwiedern muss. Na also.
"Da hast du Recht. Ich bin jetzt schon froh, dir begegnet zu sein"
Mein Lächeln wird breiter.
Es ist wirklich schön, hier neben ihr zu sitzen - und zu schweigen. Leute gehen vorbei, sehen uns an. Wir bleiben sitzen, keiner sagt ein Wort. Bis auf die paar Sätze haben wir nichts miteinander geredet.
Nach einer Weile sagt sie:
"Ich gehe jetzt. Danke, dass du da warst, es hat gutgetan."
Lächelnd. Ich Lächle zurück, froh sie aufgemuntert zu haben. Ich verabschiebe mich freundlich und sie geht davon.
Ich bleibe sitzen, bis ich irgendwann wieder fahre. Ich mache noch ein paar Fotos von anderen Gräbern, aber es wird kalt. Also fahre ich auch nach Hause.
Dort angekommen, lasse ich das Ereignis Revue passieren. Ich muss lächeln.
Ich weiß nicht, wie sie heißt. Und obwohl wir kaum miteinander geredet haben, habe ich das Gefühl, sie sehr gut zu kennen. Sie hatte Recht - es war einfach schön und hat gutgetan.
Vielleicht begegne ich ihr einmal.
Es ist ein kalter Herbststag.
Die Sonne ist untergegangen, es ist kalt draußen.
Ich sitze daheim und bin glücklich.