Eine Reise

Veröffentlicht auf von Tom

 

„Ist hier noch frei?“ - „Ja, klar!“ Ein flüchtiges Lächeln. Den Rucksack nimmst du vom Sitz, schaust aber weiter aus dem Fenster. Dein Gesicht kann ich also nur halb sehen, das ich schade finde. Hat doch gerade deine besondere Ausstrahlung mich dazu bewegt, diesen und nicht einen der anderen freien Plätze zu nehmen.

Kurz bin ich irritiert, dann aber fängst du mit Smalltalk an, den Blick aus dem Fenster gerichtet. „Wo geht’s hin?“ - „Mannheim und selbst?“ - „Karlsruhe. Nach Hause.“ Bei diesen Worten lächelst du. Ein schönes Lächeln, das ich leider nur zur Hälfte sehen kann. Nach Hause – ja, das ist ein gutes Ziel. Ich beginne zu überlegen, wo mein Zuhause wohl ist. In meiner Wohnung? Bei meinen Eltern? Nachdenklich sage ich nur „Ja.“

Warum weiß ich nicht, aber diese einfache „Ja“ schient bei dir etwas zu bewirken. Du schaust mich an. Dabei nehme ich dich zum ersten Mal wirklich wahr. Braune, lange, fein gelockte Haare. Blaue Augen. Eine zierliche Statur mit weiblichen Formen, all das in modische Klamotten gehüllt. Mir springt erst der schmale, aus Lederstreifen geflochtene Gürtel ums Auge, der deine Taille ziert, dann deine Kette. An einer einfachen Lederschnur hängt knapp oberhalb deiner Brüste ein kleines, rundes Medaillon in Messingfarbe. Bezeichnender als all das ist jedoch dein Gesucht.

Als ich es sehe, wird mir klar, warum du die ganze Zeit über aus dem Fenster geschaut hast. Die linke Hälfte ist komplett in einen Verband gehüllt. Das frei gebliebene rechte Auge wird von einem unschönen Bluterguss umgeben. Sofort schlägt meine Neugier zu, ich will wissen, was passiert ist. Jedoch spüre ich, dass es falsch wäre, danach zu fragen. So erwidere ich deinen lächelnden Blick, den du sofort wieder zu bereuen scheinst. Ich habe wohl einen kurzen Augenblick zu lang zu Neugierig geschaut, so dass du dich wieder dem Fenster zuwendest. Erst jetzt geht mir auf, was ich gesehen habe. Die lockigen Haare umrahmten ein gebräuntes Gesicht mit freundlichen Augen und einer süßen Stupsnase voller Sommersprossen. Das beste, was ich mir vorstellen kann. Wie auch immer die andere Hälfte des dennoch sehr hübschen Gesichtes so verunstaltet wurde, es scheint dir schwer zu fallen, sie zu zeigen. So sitzen wir eine Weile schweigend nebeneinander, bis du wieder anfängst zu erzählen.

Ich weiß nicht, warum du das jetzt erzählst und warum du es mir erzählst, aber das ist auch egal. Ich kann mich dem Bann deiner Stimme ohnehin nicht entziehen. So lausche ich gespannt, während du starr aus dem Fenster blickst, wie du in Karlsruhe aufgewachsen bist und zur Schule gingst, immer zu den beliebtesten gehörend. Na klar, denke ich mir, deiner Schönheit geschuldet. Wie Oberflächlich wir doch sind – bis ich merke das das wohl auch für mich gilt, schließlich habe ich diesen Sitzplatz ausgewählt.

Zum studieren wolltest du sein jeher nach Köln, in diese schöne, nicht zu große Stadt am Rhein. Alles schien so zu sein, wie bisher, bis du letztes Jahr diesen Unfall hattest. Seitdem stehst du alleine da, die wenigen guten Freunde sind schließlich in Karlsruhe geblieben. Darum fährst du jedes Wochenende nach Hause. Du schaust aus dem Fenster.

Jetzt geht mir auf, was für eine Bedeutung diese Worte für dich haben müssen, eine Bedeutung, die jemand wie ich nie nachempfinden können wird. Als du verstummst sehe ich eine einzelne Träne deine Rechte, makellose Wange hinunterlaufen. „Hör mal. Ich hab' keine Ahnung, wie das passiert ist oder warum, aber ich will es auch gar nicht wissen. Ich weiß nur, dass du auch mit dem Verband das wirklich wunderbarste Wesen bist, dem ich je begegnen durfte. Und ohne Hintergedanken zu haben: Ich würde ich dich gerne kennenlernen. Weil du einfach wie jemand wirkst, der das wert ist“.

Zum zweiten mal schaust du mich an und zum zweiten Mal lächelst du dabei. Ich lächle zurück.

Und bis Mannheim wirfst du nur ab und zu mal einen kurzen Blick aus dem Fenster.

Veröffentlicht in Besonderes

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G
<br /> Einfach schön! Ja, Du siehst einfach mehr als nur die eine Hälfte des Lebens. Gut, dass es Menschen wie Dich gibt. Günter<br />
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